Heute Morgen bin ich bei LinkedIn über einen Beitrag des Economist gestolpert. Verlinkt wurde im Beitrag auf diesen Artikel. Schon in der Unterzeile des Artikels standen die Worte, die mich (natürlich) magisch anzogen – „A book that caused a scandal….“. Mehr braucht es nicht, um mich neugierig zu machen. Und ja, diese „Geschichte“ passt tatsächlich zu meinem Jahresthema „Wie kommt das Neue in die Welt?“.
Im Jahr 1971 befindet sich Portugal in einer Diktatur unter Marcelo Caetano. Kurz zuvor hat die feministische Schriftstellerin, Journalistin und Aktivistin Maria Teresa Horta ein Buch veröffentlicht, in dem es (zumindest auch) um weibliche Lust geht. Kein Thema, dass das damalige portugiesische Regime begeistert. An einem Sommerabend wird sie von einem Auto verfolgt, zunächst verbal eingeschüchtert und bedroht und schließlich wohl auch so stark verletzt, dass sie in einem Krankenhaus landet. Damit wollte man sie von weiteren unerwünschten Veröffentlichungen abhalten. Doch als sie ein paar Tage später ihren Kolleginnen und Freundinnen Maria Isabel Barreno und Maria Velho da Costa davon erzählt, passiert etwas ganz anderes. Die drei Marias (so werden sie tatsächlich bezeichnet) beschließen (so der Artikel), gemeinsam ein Buch zu schreiben. Und was für ein Buch!
Die drei Schriftstellerinnen erschaffen gemeinsam das Buch mit dem Titel „Neue portugiesische Briefe“ (Novas cartas portuguesas). Aber – wo es „neue Briefe“ gibt, muß es irgendwann auch „alte Briefe“ gegeben haben. Diese „alten Briefe“ sind für diese Geschichte und das Buch und das, was an diesem Buch neu ist, von großer Bedeutung. In der Zeit ab 1663 bis 1668 gab es – so die Einleitung des Buches mit den „alten Briefen“ – in jedem Sommer „Kriegshandlungen“ (wohl zwischen Spanien und Frankreich), die räumlich auch Portugal betrafen. 1668 erlangte Portugal seine Unabhängigkeit. Im Jahr 1669 erschienen die sogenannten „Portugiesischen Briefe“ (Lettres portugaises) in Paris. Es sollte sich dabei um eine französische Übersetzung von fünf Briefen einer portugiesischen Nonne an einen französischen Offizier handeln. Es wurde damals heftig darüber gestritten, ob die Briefe echt waren oder es sich um einen Briefroman handelte. Man ging zunächst eher davon aus, dass die Nonne Mariana Alcoforado diese Briefe geschrieben hat. Es gab aber keine portugiesischsprachige Fassung dieser Briefe. Gabriel der Guilleragues bezeichnete sich zunächst als Übersetzer und gab an, die originalen Briefe verloren zu haben. Mittlerweile ist sich die Forschung einig, dass er den ersten Briefroman der französischen Literatur geschrieben hat.
Etwas Neues – die neue Gattung „Briefroman„. Die „Portugiesischen Briefe“ waren mir bis heute Vormittag unbekannt. Mittlerweile habe ich mir die französischsprachige Fassung als Ebook heruntergeladen, wer eine deutschsprachige Fassung sucht, wird beim Projekt Gutenberg fündig (Übersetzung von Rilke). Bei der Suche nach dem Begriff „Briefroman“ bin ich dann auf den wohl sehr spannenden (und bösen) Briefroman „Loveletters between a Nobleman and his Sister“ von Aphra Behn gestoßen. 1683 wurde dieser Roman veröffentlich – ob Aphra Behn die „Lettres portugaises“ kannte? Und ja, auch den Roman habe ich zwischenzeitlich heruntergeladen (englischsprachige Version unter anderem hier) – wobei Aphra Behn noch weitere spannende Werke geschrieben hat….
Von der frühen Feministin Aphra Behn, die ich über den Briefroman gefunden habe, zurück nach Portugal zu den „Neuen Portugiesischen Briefen“. Die drei portugiesischen Schriftstellerinnen nehmen die berühmten portugiesischen Briefe als gedanklichen Ausgangspunkt. Sie brechen bewußt mit literarischen Traditionen. Ihr Text ist kein „Roman“ im klassischen Sinne, auch kein Briefroman. Das Buch vereint Briefe und andere Texte aus der Gegenwart der Autorinnen mit Briefen und Texten aus der Zeit der Mariana Alcoforado und von fiktiven Menschen (auch Männern) aus der Zeit der „portugiesischen Briefe“. Thematisch geht es um viele Aspekte – um die Situation der Frau, Gewalt in der Gesellschaft, das Rechtssystem und Kolonialkrieg. Mehrere Verlage weigerten sich, das Buch herauszubringen. Als es dann endlich mit einer Auflage von 1380 Stück auf den Markt kam, wurde es nach drei Wochen (und bereits 1200 verkauften Exemplaren) konfisziert. Die Autorinnen wurden (zumindest zeitweilig) verhaftet und ein Prozeß folgte (von 1973 bis 1974). Erst die politischen Veränderungen in Portugal (Nelkenrevolution) haben dazu geführt, dass dieser Prozeß zugunsten der Autorinnen ausging. Die Geschichte der Veröffentlichung, mehr zum Inhalt und zu den Autorinnen kann man gut in diesem ausführlichen deutschsprachigen Dokument nachlesen.
Für das Neue braucht man oft Mut. Gleichzeitig sind alle drei Beispiele – die „Portugiesischen Briefe“, der Briefroman von Aphra Behn und die „Neuen portugiesischen Briefe“ wunderbare Beispiele für die Kraft, die „das Neue“ entwickeln kann.
In diesem Sinne wünsche ich Euch und Ihnen gute Ideen, den Mut, diese Ideen umzusetzen und Menschen, die sich für diese Ideen, Werke und Ergebnisse begeistern und sie teilen (so wie ich das auch gerade tue).