24. Dezember – die vierundzwanzig

Ich habe die vierundzwanzig erreicht! Nur noch dieser eine Beitrag und das Adventskalenderprojekt ist für dieses Jahr abgeschlossen. Es war eine spannende Zeit. Manche Zahl hat mich mehr Zeit „gekostet“ als ich vorher gedacht habe, aber das Nachdenken und Suchen hat mir sehr viel Spaß gemacht. Nun also die letzte Runde:

Weihnachten ist ja irgendwie das Fest des Überflusses und da paßt die Überschrift „Zum erstenmal schlage ich über die Stränge“ des vierundzwanzigsten Kapitels des Romans „David Copperfield“ von Charles Dickens trefflich. David, die Hauptperson des Romans, hat zum erstenmal eine eigene Wohnung bezogen und plant nun ein üppiges Einstandsessen für seine Freunde. Zugegeben, die bestellten Speisen sind nicht so ganz meine Lieblingsspeisen, aber der Gedanke eines Festessens paßt trotzdem sehr gut für den heutigen Tag.

Das mit dem Geschmack ist ja so eine Sache. Was der eine als Festessen empfindet, mundet dem anderen gar nicht. So ergeht es auch dem Hahn in der Fabel vierundzwanzig „Der Hahn und die Perle“ von Iwan Krylow. Der Hahn findet in einer Pfütze eine Perle und hätte doch lieber ein Gerstenkorn.

Aber können wir Perlen und Gerstenkörner eigentlich immer so klar unterscheiden? Dieses Jahr hat manche meiner Grundannahmen über Deutschland und Europa schon arg in Frage gestellt. Die Zukunft wird zeigen, ob sich alles zum Guten wendet. Dazu paßt das vierundzwanzigste Kapitel der „Tudors“ von Peter Ackroyd gut – dieses Kapitel trägt nämlich den Titel „An age of anxiety“. Während wir zu Weihnachten die Geschichte von Marias Niederkunft hören, ist Mary Tudor nicht einmal schwanger und genau das ist ihr Problem, der sehnsüchtig erwartete Thronfolger will sich einfach nicht einstellen. Marys persönliches Schicksal hat natürlich auch Konsequenzen für England. Es waren unruhige Zeiten!

Es ist aber gut zu wissen, daß viel mehr möglich ist, als wir uns manchmal vorstellen können. Die Geschichte „The Legend of Huberta“ ist eine solche Geschichte. Im vierundzwangzigsten Kapitel hat sich Huberta, das Nilpferd von St. Lucia bis in die Nähe von Durban bewegt – ein Nilpferd, das die Welt erkundet, dabei viele Freundschaften schließt und sogar die Musik für sich entdeckt! Das Schöne: dieser Geschichte liegt eine wahre Begebenheit zugrunde! Ein schöner Abschluß für diesen Beitrag!

Ich wünsche Ihnen/Euch nun eine genußvolle und zauberhafte Weihnachtszeit, mit vielen wunderbaren Begegnungen und Erlebnissen!

23. Dezember – die dreiundzwanzig

Mit der dreiundzwanzig läute ich die vorletzte Runde des diesjährigen Adventskalenderprojekts ein. Ich schwanke zwischen Wehmut und Erleichterung. Wehmut, daß die Adventszeit schon fast wieder vorbei ist und Erleichterung, daß ich bis jetzt jeden Tag etwas (hoffentlich Interessantes) geschrieben habe. Bei mancher Zahl war das gar nicht so einfach.

Zur dreiundzwanzig sind mir aber ganz schnell ein paar spannende Gedanken gekommen. Die dreiundzwanzig ist nämlich die Lösung für ein Problem. Ein Problem, das Christian Morgenstern in seinen Galgenliedern sogar mit dem Titel „Das Problem“ versehen hat. Nämlich ein Problem, das der Zwölf-Elf mit seinem Namen hat. Ein nachvollziehbares Problem. Und dieses Problem löst der Zwölf-Elf in dem er sich fortan Dreiundzwanzig nennt.

Ein Problem ist oft auch, wie wir uns bei Streit und Widerspruch verhalten. Arthur Schopenhauer hat für diese Fälle ein Büchlein mit dem Titel Eristische Dialektik oder Die Kunst, Recht zu behalten geschrieben. Im Kunstgriff dreiundzwanzig befaßt Schopenhauer sich mit der Übertreibung. Um Recht zu behalten kann es – aus seiner Sicht – sinnvoll sein, den Gegner durch Widerspruch zur Übertreibung zu reizen. Schopenhauer warnt uns jedoch auch davor, uns vom Gegner zur Übertreibung verleiten zu lassen.

Ist das, was D 503, Bürger des Einzigen Staates in der Eintragung dreiundzwanzig schildert eine Übetreibung oder nicht? D 503 träumt von Romantik und Liebe – Dinge, die es im Einzigen Staat nicht gibt. Nicht umsonst sagt seine Bekannte genau dort zu ihm, daß er anomal und krank aussieht – wobei für sie Anomalität und Krankheit dasselbe sind. Was aber, wenn man in einem totalitären Staat, der weder Gefühle noch Seelen kennt, plötzlich eine Seele entwickelt? Darum geht es in dem Roman „Wir“ von Jewgenij Samjatin.

Wie passend, daß Epiktet im dreiundzwanzigsten Spruch im Buch vom geglückten Leben empfiehlt den Blick nach innen zu richten.

Und dann? Dann können wir – wie in Psalm dreiundzwanzig – darauf hoffen, daß alles gut wird.

In diesem Sinne möchte ich Ihnen/Euch einen fröhlichen und hoffnungsvollen 23. Dezember wünschen – voller Vorfreude auf die bald kommende Weihnachtszeit.

22. Dezember – die zweiundzwanzig

Die zweiundzwanzig ist eine Zahl, die nicht sofort große Assoziationen hervorruft. Es war eine Frage des Blätterns und Sammelns, ein paar schöne Texte zu finden.

Beginnen möchte ich mit der zweiundzwanzigsten Fabel von Aesop mit dem Titel Die Dohle. Die Dohle wünscht sich ein leichteres Leben und verkleidet sich als Taube. Ein paar Tage geht das gut, aber dann kann sie – im wahrsten Sinne des Wortes – ihren Schnabel nicht halten und die Tauben erkennen und verjagen sie. Aber da die Dohle als Taube verkleidet ist, erkennen auch die Dohlen sie nicht mehr und sie ist fortan heimatlos. Ein schlimmeres Schicksal als zuvor.

Das mit dem Schicksal ist ohnehin so eine Sache – das würde Shylock sicherlich auch „unterschreiben“. Er begegnet uns im zweiundzwanzigsten Kapitel des Romans „Der Schelm von Venedig“ von Christopher Moore. Doch auch der klassische Shylock aus dem Kaufmann von Venedig hat kein einfaches Los – ergeht es ihm besser als der Dohle aus Aesops Fabel?

Noch schlimmer ergeht es in einem gewissen Sinn Maxwell Sim im zweiundzwanzigsten Kapitel des Romans „The terrible privacy of Maxwell Sim“ von Jonathan Coe. Max steht kurz vor einer bahnbrechenden Erkenntnis – die ich hier aber nicht vorwegnehmen möchte – es könnte ja sein, daß jemand das Buch liest! Ich war jedenfalls überrascht, welche Wendung die Geschichte am Ende nahm.

Dazu (also zu dieser Wendung) paßt übrigens auch gut, daß Oscar Wilde sehr gerne Bücher an seine Freunde und Verwandten verschenkte. Die gemeinsame Liebe zu Büchern fand in diesen Geschenken ihren sichtbaren Ausdruck. Im zweiundzwanzigsten Kapitel „Mirror of perfect friendship“ des Buches „Oscar’s Books“ von Thomas Wright wird dieses Thema mit einigen schönen Beispielen behandelt. Ja, mit dem passenden Buch kann man sehr viel ausdrücken!

Ich wünsche Ihnen/Euch einen schönen und glücklichen 22. Dezember und wünsche vor allem auch viele gute Buchfunde!

21. Dezember – die einundzwanzig

Mit einundzwanzig Jahren war man früher (endlich) volljährig und gleichzeitig steht die einundzwanzig auch für drei Wochen. Ja, und seit drei Wochen schreibe ich hier schon und verbinde Zahlen und Texte.

Wir nähern uns mehr und mehr den Feiertagen und was paßt da besser als ein Text über ein Fest. In der einundzwanzigsten Fabel von Jean de La Fontaine mit dem Titel „Die Stadtmaus und die Landmaus“ lädt die Stadtmaus die Landmaus zu einem festlichen Essen ein. Das Essen ist köstlich aber nicht sorgenfrei, denn die beiden Mäuse werden beim Essen gestört. Es ist zwar nur blinder Alarm – aber die Frage nach der Entscheidung zwischen Genuß und Gefahr steht im Raum. Wie gut, daß es nur blinder Alarm war.

Aber: bilden wir uns Probleme und Gefahr manchmal nicht einfach nur ein? Wie groß ist die Macht der Phantasie? Wie entstehen unsere Vorstellungen? Mit diesem spannenden Thema befaßt sich Montaigne in seinem Essay einundzwanzig mit dem Titel „Über die Macht der Phantasie“ im ersten Buch. Sagt die Phantasie etwas über die Wirklichkeit oder über einen selbst? Ein Beispiel führt Montaigne selbst an: wenn Menschen in seiner Gegenwart ständig husten, dann überfällt auch ihn ein Hustenreiz. Tatsächlich krank oder Macht der Phantasie? Eine spannende Frage!

Diese Frage führt uns auch gleich zur „Kontrollillusion“ im einundzwanzigsten Kapitel der 150 Aha-Experimente von Serge Cicotti. Fühlen wir uns besser, wenn wir meinen, etwas kontrollieren zu können? Wenn wir selber am Steuer eines Autos sitzen, ein Los auswählen oder Zahlen für Lotto selber bestimmen? Auch hier werden wir – irgendwie – von der Macht unserer Vorstellungen geblendet.

Dazu paßt wiederum die einundzwanzigste Fabel von Iwan Krylow. Die Tiere erschlugen den Bären auf freiem Feld und teilten sich die Beute. Auch der Hase war dabei und riß an einem Ohr des Bären. Die Tiere hatten den Hasen aber während der gemeinsamen Jagd überhaupt nicht gesehen. Doch der Hase hatte eine gute Erklärung parat: er hatte den Bären aufgeschreckt und gestellt. Welche Prahlerei – und doch bekam der Hase das Ohr des Bären.

Ja, so geht es wohl oft und manchmal ärgern wir uns auch darüber. Aber für den 21. Dezember wünsche ich Ihnen/Euch einen wunderbaren Tag, der uns allen die schönen Seiten der Phantasie zeigt und uns gelassen mit allen anderen Dingen umgehen läßt.

20. Dezember – die zwanzig

Die zwanzig ist der Beginn einer neuen Dekade und damit läutet sie auch die Zielgerade des Adventskalenders ein. Nur noch wenige Tage und das „Projekt“ ist für dieses Jahr beendet. Was aber fällt mir zur zwanzig ein?

Die Geschichte „The Bridge of San Luis Rey“ von Thornton Wilder beginnt damit, daß am zwangzisten Juli 1714 eine Brücke in Peru in die Tiefe stürzt. Fünf Menschen werden bei dem Einsturz mitgerissen und ein Mönch stellt sich der Frage, warum gerade diese fünf Menschen ihr Leben verloren. Schicksal? Unglück?

Auch Galileo Galeli erlitt einen Absturz – allerdings nicht physisch von einer Brücke, sondern intellektuell durch den Zorn des Papstes über sein Werk „Dialog über die zwei Weltsysteme“. Galilei hatte durchaus den offiziellen Weg eingehalten und eine vorläufige Druckerlaubnis erhalten. Aber dann lief einiges schief und schließlich wendete sich der vormals freundlich gesonnene Papst gegen Galilei – ein Inquisitionsprozeß war die Folge. Diese Zeit wird im zwanzigstens Kapitel von Dava Sobels Buch „Galileo’s Daughter“ eindrücklich beschrieben.

Wäre der Papst auch dann zornig gewesen, wenn er sich mit dem zwangzisten Spruch von Epiktet aus dem „Buch vom geglückten Leben“ auseinandergesetzt hätte? Es ist eine interessante Perspektive, daß die Kränkung nicht in dem liegt, was jemand anderes macht oder sagt, sondern in unserer Meinung. In ruhigen Moment steckt viel Wahrheit in diesem Gedanken, aber ob ich das im Moment der gefühlten Kränkung oder des Zorns noch sehen kann?

Womit kann man besser umgehen? Mit einem „intelligenten Teufel“ oder einem „gutwilligen Idioten“? Das ist die Frage, die Tony Judt im zwangzisten Kapitel des Buches „The Memory Chalet“ mit der Überschrift „Capitve Minds“ stellt. Es geht um das Spannungsverhältnis zwischen Autonomie und Gehorsam – gerade am Beispiel Osteuropas in den 60er und 70er Jahren. Können wir wirklich über andere Menschen und deren Entscheidungen oder Vorgehensweisen urteilen, wenn wir nie unter Bedingungen der Unfreiheit und der Unterdrückung gelebt haben? Eine Frage, die gerade jetzt wieder sehr aktuell ist – auch in Europa!

Ein trauriger Ausblick? Nein, keinesfalls, eher nachdenklich. Daher wünsche ich Ihnen/Euch einen 20. Dezember mit guten Gedanken und mit viel Gelassenheit.

19. Dezember – die neunzehn

Jetzt drücke ich mich schon ein paar Minuten davor, mich mit der neunzehn zu beschäftigen. Die leere Stelle auf meinem Zettel irritiert mich, aber einmal mit der Suche angefangen habe ich doch erstaunlich viele und interessante Stellen gefunden.

Die neunzehn ist eine schwierige Zahl – sie beinhaltet nicht den Jubel der achtzehn (endlich volljährig) und auch nicht den Klang der zwanzig (ein neuer Anfang). Mit welchen Erwartungen kann ich also an die neunzehn herangehen? Gracian warnt im neunzehnten Spruch des Handorakels vor übermäßigen Erwartungen und vermutlich hat er recht – es ist schöner, wenn die Wirklichkeit die Erwartungen übertrifft – allerdings nur, wenn es um Positives geht.

Die Angst, daß die „Erwartungen“ von der Wirklichkeit übertroffen werden, sprechen aus den Zeilen, die Victor Frankenstein im neunzehnten Kapitel des Buches „Frankenstein“ schreibt. Wenn er keine Post bekommt, hat er Angst, daß seine Familienangehörigen nicht mehr leben und wenn er Post bekommt hat er Angst vor schlechten Nachrichten. Ohne innere Ruhe reist er mit seinem Freund Clerval durch England – immer mit Angst, nie mit Ruhe.

Glücklich ist die Lage von Victor Frankenstein definitiv nicht, denn Glück setzt zum einen Geistesfreiheit voraus – die Verachtung der Dinge, die nicht in unserer Gewalt sind und das Vermeiden von Kämpfen, in denen es nicht in unserer Macht steht, zu siegen. Schöne Worte die Epiktet im neunzehnten Spruch im „Buch vom geglückten Leben“ äußert – aber ist das so einfach getan wie gedacht oder gesagt?

Ist der Kampf gegen die „Midlife-Crisis“ ein Kampf, den man gewinnen kann? Tony Judt schildert im neunzehnten Kapitel des sehr beindruckenden Buches „The Memory Chalet“ seinen Kampf gegen diese Krise. Zu einem Zeitpunkt, in dem für ihn Veränderung notwendig ist, entscheidet er sich, Tschechisch zu lernen. Mit großer Ausdauer macht er sich an die Arbeit. Was zunächst klein und unbedeutend klingt, wird für ihn und sein Leben groß, wichtig und prägend. Erstaunlich welche Auswirkungen eine derartige Entscheidung haben kann!

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen/Euch einen 19. Dezember, der schöner und positiver wird als erwartet mit guten Entscheidungen!

18. Dezember – die achtzehn

Die achtzehn verbinde ich – seit den ersten Überlegungen zu diesem Projekt – mit dem wunderschönen achtzehnten Sonett von William Shakespeare Shall I compare thee to a summer’s day. Kann eine Zahl schöner beginnen als mit einem solchen Gedicht?

Shakespeare ist ein gutes Stichwort. Im achtzehnten Kapitel des Buches „Wanderungen durch Montaignes Welt“ fragt der Autor Hans Stilett nach der Verbindung zwischen Montaigne und Shakespeare. Hat Shakespeare sich von Montaigne inspirieren lassen? Ihn teilweise sogar „übernommen“? Liest Hamlet etwa gerade einen Essay von Montaigne als er die Frage nach seiner Lektüre beantwortet? Manche Parallelen zwischen den Texten von Montaigne und den Textstellen im Hamlet erscheinen sehr nahe – erstaunlich nahe. Einen Beweis gibt es jedoch (bisher) nicht und so bleibt diese Frage offen. Aber irgendwie gefällt mir der Gedanke, daß Shakespeare sich auch mit den Texten von Montaigne beschäftigt hat.

Von Shakespeare zu Miguel de Cervantes? Ja, das geht und zwar mit dem achtzehnten Kapitel des Buches „The Shakespeare Secret“ von Jennifer Lee Carrell. Kate (die Hauptperson der Geschichte) und Ben reisen auf den Spuren von Shakespeare durch die Wüste und Kate, die Shakespeare-Expertin, erzählt Ben die Geschichte von Cardenio. Ob Shakespeare selbst mit dem Stück zu tun hat? Spannende Frage!

Alle Menschen hegen Träume sagt der Buchhalter in Fernando Pessoas „Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares“ im achtzehnten Kapitel – doch was die Menschen unterscheidet ist, ob Schicksal beziehungsweise Kraft ihnen eine Verwirklung dieser Träume erlauben.

Dazu paßt wiederum die Frage, warum schöne Augenblicke so schnell verfliegen? Eine Frage, die Serge Cicotti im achtzehnten Aha-Experiment stellt. Die Antwort ist verblüffend einfach – es ist nur unsere subjektive Zeitwahrnehmung.

Daher wünsche ich Ihnen/Euch für den 18. Dezember viele schöne Augenblicke zum mußevollen Genießen.

17. Dezember – die siebzehn

„Bedenke alles, bereue nichts“ ist die Antwort, die Sarah Bakewell auf die Frage „Wie soll ich leben“ in ihrem Buch „Das Leben Montaignes“ dem siebzehnten Kapitel als Überschrift gibt. Montaigne selbst schrieb einmal, daß wir alle nur aus buntscheckigen Fetzen bestehen, die locker und lose aneinanderhängen. Er hatte durchaus auch Selbstzweifel – gerade auch im Hinblick auf das Schreiben seiner Essays – aber er hat die vielen unterschiedlichen Identitäten in seinem Leben nie bereut, nie retuschiert. Vielleicht ist es genau das, was uns heute an ihm so fasziniert.

Passend dazu fragt Gene C. Hayden in ihrem Buch „Bleib dran, wenn dir was wichtig ist“ im siebzehnten Kapitel nach dem Scheitern: Was ist, wenn ich scheitere? Ja, was ist dann? Wie wichtig ist es für uns zu unterscheiden, ob wir einen Fehler machen oder ob wir einfach untätig bleiben? Welche Geschichten können wir erzählen, wenn wir etwas wenigstens versucht haben?

Was aus einer kleinen Geschichte werden kann, können wir am Beispiel von Martin Luther sehen, der am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schloßkirche nagelte. Er hat sicherlich lange darüber nachgedacht, bereut hat es wohl nicht und aus der kleinen Geschichte eines unbedeutenden Mönchs ist eine große Geschichte geworden.

Solche Geschichten können wir nicht alle schreiben, vielleicht wollen die meisten von uns das auch gar nicht. Aber werden wir es irgendwann bereuen, wenn wir schweigen, wenn wir nicht das Gespräch suchen? Theodore Zeldin stellt am Ende seines Buches „Der Rede Wert“ eine Liste mit Gesprächsthemen auf. Das siebzehnte Thema handelt vom Schweigen – konkret vom Schweigen in der Familie, aber ich glaube, daß man den Gedanken auch auf andere Bereiche übertragen kann. Zeldin fragt nämlich, ob unser Geist schrumpft, wenn er nicht durch Gespräche beziehungsweise Reden genährt wird. Eine spannende Frage, mit der ich diesen Beitrag abschließen möchte.

Ich wünsche Ihnen/Euch einen wunderbaren 17. Dezember mit vielen geistig nahrhaften Gesprächen.

16. Dezember – die sechzehn

Schon vor ein paar Wochen habe ich angefangen, mir auf einem großen Blatt Notizen zu den einzelnen Zahlen zu machen. Bald füllten sich die meisten Felder – manche mehr, andere weniger. Das Feld der Zahl sechzehn blieb lange leer, verdächtig lange. Aber genau darin liegt auch die Herausforderung – zu jeder Zahl etwas Passendes zu finden.

Gleich zweimal ist Thomas Edward Lawrence mit der sechzehn verbunden. Er kam am 16. August 1888 zur Welt und ab 1916 war er der britische Verbindungsmann zu den Aufständischen um Scherif Hussein, die gegen das Osmanische Reich kämpften. Damit wurde er als „Lawrence von Arabien“ berühmt. Vor ein paar Jahren gab es in Köln eine sehr gute Ausstellung rund um seine Person – die Audioguides zu dieser Ausstellung kann man immer noch anhören. Ich frage mich angesichts der aktuellen Ereignisse ja schon, welchen Einfluß die damaligen Entscheidungen auf die heutige Lage haben.

Was wäre zu diesem Thema passender als eine Geschichte aus tausendundeiner Nacht? Es muß natürlich die Geschichte der sechzehnten Nacht sein. Die Geschichte fängt spannend an und dann unterbricht Scheherasade die Geschichte, damit der König voller Spannung auf die Fortsetzung sie weiter am Leben läßt. Wir können natürlich ganz unten auf die Fortsetzung klicken ……

Auch das Essay sechzehn von Francis Bacon über den Atheismus paßt thematisch. Bacon war der Ansicht, daß oberflächliches Philosphieren zur Gottesleugnung führt, während tiefes Nachdenken den Menschen zur Religion zurück führt. Dabei beschränkt er sich in diesem Essay keinesfalls auf christliche Religionen, sondern führt gerade die alten Römer als Beispiel für Frömmigkeit und Religion an. Ob er wohl wirklich in religiösen Dingen so „weltoffen“ war? Jedenfalls ist die Frage, wie wir mit Religionen und religiösen Werten umgehen, eine hochaktuelle Frage.

Ja, das habe ich schon oft geschrieben, daß eine Frage aktuell ist. Und wenn ich das immer wiederhole, wird es dann selbstverständlich? So argumentiert zumindest das sechzehnte Kapitel mit der Überschrift „Serienschaltung“ aus dem Buch „Selbstdenken“ von Jens Soentgen. In diesem Buch werden zwanzig Praktiken der Philosophie vorgestellt, die ständige Wiederholung, die durchaus auch abschreckend und trivialisierend wirken kann, gehört dazu.

Zum Selbstdenken gehört einerseits die Einsicht, andererseits die gute Absicht – und wie gut ist es, daß Baltasar Gracian beides in seinem sechzehnten Spruch des Handorakels „Einsicht mit redlicher Absicht“ vereint hat.

So bleibt mir für heute nur noch, Ihnen/Euch für den 16. Dezember viele gute Einsichten und redliche Absichten für ein gutes Gelingen zu wünschen!

15. Dezember – die fünfzehn

Ein Zufall! Vor etwas mehr als zwei Wochen war ich in Berlin. Ich besuchte zwei Tagungen und – natürlich – besuchte ich auch die eine oder andere Buchhandlung. Auf der Rückfahrt von Berlin (ich hatte damals schon die Idee zu diesem Adventskalender und dachte intensiv über die einzelnen Zahlen nach) las ich in dem Buch „Masse und Demokratie“ von Stefan Jonsson das erste Kapitel und begnete dort der Zahl fünfzehn. Wirklich ein Zufall, aber gleichzeitig auch ein wichtiger Fund.

Was geschah in Wien am 15. Juli 1927? Ich konnte diese Frage nicht beantworten, die Schilderung in dem Buch „Masse und Demokratie“ nahm mich sofort gefangen. In den 20er Jahren gab es in Österreich wohl eine deutliche Spaltung zwischen der sozialdemokratischen Bewegung und den radikalen Konservativen. Sonntags fanden in vielen Orten Demonstrationen statt. Bei einer Demonstration in Schattendorf wurden zwei Menschen durch Schüsse in den Rücken erschossen – ein Arbeiter und ein achtjähriger Junge. Am 14. Juli 1927 sprachen die Geschworenen die Angeklagten (alles sogenannte „Frontkämpfer“) frei, obwohl diese die Tat selbst gestanden hatten. Am nächsten Morgen verkündeten die Zeitungen das Urteil und es kam zu einer spontanen großen Demonstration der Arbeiter. Die Demonstranten belagerten unter anderem den Justizpalast. Am frühen Nachmittag eröffnete die Polizei das Feuer. 89 Menschen starben, über 1000 Menschen wurden verletzt – gleichzeitig kann man sagen, daß an diesem Tag die demokratischen Formen zusammenbrachen. Es ist interessant zu lesen (und auch in Bildern zu sehen), wie unterschiedlich diese Ereignisse je nach Perspektive des Berichtenden wahrgenommen und erzählt wurden. Die Gegenüberstellung dieser unterschiedlichen Perspektiven macht das erste Kapitel wirklich interessant.

Um den Umgang mit Gewalt geht es auch im Buch „What do you buy the children of the terrorist who tried to kill your wife?“ von David Harris-Gershon. Im fünfzehnten Kapitel setzt sich David, der Ehemann einer Frau, die bei einem Terroranschlag in Israel schwer verletzt wurde, damit auseinander, daß er als Angehöriger auch ein Opfer ist. Das enge Mitleiden mit dem Opfer – so Harris-Gershon – kann uns selbst zum Opfer werden lassen. Er lernt dies aus der Beschäftigung mit der südafrikanischen Truth and Reconciliation Commission und den Berichten darüber – insbesondere aus dem Buch „Country of my skull“ von Antjie Krog. Das ist der Moment, wo Harris-Gershon nicht nur die brutale Unmenschlichkeit des Terroranschlags sieht, sondern auch die Frage der Menschenrechte für Palästinenser. Eine Entwicklung die dazu führt, daß er Frieden und Versöhnung und das Gespräch mit dem Täter sucht. Ein sehr lesenswertes Buch!

Welchen Einfluß haben eigentlich Armut und Chancenlosigkeit auf unseren Umgang miteinander? Eine Frage, die wir wohl bald diskutieren sollten. Die „23 things they don’t tell you about Capitalism“ von Ha-Joon Chang könnten dabei durchaus helfen. Oft wird behauptet, daß die Menschen in ärmeren Ländern einfach nur nicht unternehmerisch genug sind, einfach nicht die richtige „Haltung“ haben. Aber so einfach ist es nicht, eher im Gegenteil. Und Kapitel fünfzehn aus diesem Buch anaylisiert genau diese Frage.

Und wie wäre es mit etwas „Sanftmut“, denn darum geht es im fünfzehnten Kapitel von „Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben“ von André Comte-Sponville. Comte-Sponville beschreibt die Sanftmut als eine weibliche Tugend – und zwar als Mut ohne Gewaltsamkeit, Stärke ohne Härte und Liebe ohne Zorn. Vielleicht ist es treffender Sanftmut als Gegenteil der Barbarei und damit als Synonym für Zivilisation zu sehen. Eine Tugend, die wir auch heute dringend brauchen – und zwar unabhängig davon, ob wir nun männlich oder weiblich sind.

In diesem Sinne möchte ich Ihnen/Euch einen guten und wahrhaft zivilisierten 15. Dezember wünschen.