14. Dezember: Open City

Dieses Jahr habe ich viele Bücher gefunden und auch gelesen, in denen es um Flanieren, langsame Bewegung und Spaziergänge geht. Eines dieser Bücher war „Open City“ von Teju Cole (deutschsprachige Version ebenfalls „Open City„). „Open City“ ist eines der wenigen Bücher, das ich nicht in der Buchhandlung entdeckt sondern direkt – aufgrund eines darüber gelesenen Berichts – bestellt habe. Das passiert eher selten. Umso schöner, daß das Buch wirklich hielt, was die Beschreibung versprach!

Ein junger nigerianischer Arzt wandert durch die Straßen von Manhattan. Auf seinen Stadtwanderungen entdeckt er die Stadt, trifft unterschiedliche Menschen, denkt über viele Dinge nach und erzählt auch seine Lebensgeschichte. Schon damit ein gutes Buch. Wirklich bewegt (und auch betroffen gemacht) hat micht allerdings das Kapitel, in dem der junge Arzt – auf der Suche nach seiner Großmutter – einige Zeit in Brüssel verbringt. Auch dort entdeckt er wandernd die Stadt und ihre Bewohner. Auch enttäuschte Bewohner, die aus anderen Ländern (zum Beispiel aus Marokko) nach Europa kommen, um für ihre Träume von Bildung und Freiheit in Europa einen Grundstein zu legen und die hier scheitern. Eine traurige Geschichte enttäuschter Träume, enttäuschter Hoffnungen und enttäuschter „Liebe“ zu Europa. Beim Lesen dieses Buches habe ich ein Europa erlebt, das mir nicht gefällt und das die Werte, die ich für wichtig halte, gerade nicht schätzt. Ja, es ist nur eine Geschichte und ich weiß nicht einmal, ob diese Geschichte auf einer realen Erfahrung basiert. Trotzdem hat das Lesen dieses Buches für mich dazu geführt, daß ich mich frage, ob „mein“ Europa Realität oder Fassade ist …….. Und das ist – gerade heute – leider eine sehr aktuelle Frage!

13. Dezember: Der Schneesturm

Draußen sieht es gerade gar nicht winterlich aus, eher naß und grün. Aber der Gedanke an Winter und Schnee gehört für mich zur Advents- und Weihnachtszeit dazu. Und wenn es „draußen“ nicht geht, dann halt lesend „drinnen“. Erst vor ein paar Tagen habe ich passenderweise den Roman „Der Schneesturm“ von Vladimir Sorokin gelesen.

Was wie eine klassische Wintergeschichte aus dem letzten oder vorletzten Jahrhundert beginnt, ändert sich nach und nach in eine skurrile Geschichte, in der eigentlich nur noch der Winter und der Schnee „real“ sind. Verwirrend, daß ich bis zum Ende des Romans eigentlich immer noch nicht wirklich wußte, in welcher Zeit die Geschichte eigentlich spielt. Aber ist Zeit wirklich von Bedeutung? Was, wenn wir uns gerade im Winter auf eine phantastische Reise begeben können (die allerdings etwas „besser“ ausgehen sollte als das Romanende ……).

„Der Schneesturm“ ist vielleicht kein „bewegendes“ Buch, aber definitiv ein Buch, das die Phantasie herausfordert und anregt und in diesem Sinne definitiv ein gutes Buch.

12. Dezember – Warten

Hat schon jemand auf meinen Blogbeitrag für heute gewartet? Vermutlich nicht – aber Warten ist ein Thema, mit dem wir alle irgendwann in Berührung kommen. Wir warten auf besseres Wetter, auf die nächste Pause, auf das Christkind, auf (gute oder schlechte) Ergebnisse, auf einen Termin ……. Gut also, daß Friederike Gräff das Thema mit dem Buch „Warten Erkundungen eines ungeliebten Zustands“ aufgegriffen hat.

Mich hat alleine schon der Titel zum Kauf verleitet und das war eine gute Entscheidung. Denn Warten ist nicht gleich Warten. Es ist ein Unterschied, wie und worauf wir warten. Warten wir auf eine Idee, eine Eingebung? Warten wir auf ein fröhliches Ereignis wie zum Beispiel eine Feier oder die Geburt eines Kindes? Ist Warten eigentlich gerecht? Und wie steht es mit unserem eigenen „Wartenkönnen“, unserer Geduld?

Die Autorin hat viele Gespräche mit Menschen geführt, die in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen warten – auf eine Organtransplantation, auf die erste Geburt, auf den Tod. Erst beim Lesen ist mir bewußt geworden, wie vielfältig „Warten“ sein kann und wieviel Zeit Menschen wartend verbringen. Und dabei stelle ich mir gerade die Frage, ob Warten wirklich so ein „ungeliebter“ Zustand ist beziehungsweise sein muß …….

11. Dezember – The Sleepwalkers

Noch schreiben wir das Jahr 2014. Ein unruhiges Jahr, das bisher deutlich von internationalen Krisen und auch von kriegerischen Auseinandersetzungen bestimmt ist. Vor 100 Jahren war das nicht anders, denn 1914 brach der 1. Weltkrieg aus – für mich ein „guter“ Anlaß, mich mit Literatur zu diesem Thema zu beschäftigen.

Das Buch „The Sleepwalkers How Europe Went to War in 1914“ von Crhistopher Clark (deutschsprachige Version: „Die Schlafwandler Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog„) hat mir dabei viele völlig unbekannte Hintergrundinformationen geliefert und mich immer wieder verstört und verunsichert. Wie viele Chancen hätte es gegeben, den Krieg zu verhindern? Wie wenig wurde dies anscheinend gewollt?

Vielleicht kann man Geschichte auch erst dann wirklich erzählen, wenn eine gewisse Zeit zwischen den „Ereignissen“ und dem Bericht darüber liegt. Gerade die Vorgeschichte mit all ihren Verwicklungen war mir völlig unbekannt. Mein „Wissen“ (ich möchte es nicht wirklich so bezeichnen) setzte eigentlich beim Attentat in Sarajevo ein – ein viel zu später Zeitpunkt, um zu verstehen, was warum passierte. Nicht umsonst unterteilt Clark sein Buch in drei Teile – den Weg nach Sarajevo, der unter anderem die serbische Geschichte von 1803 bis 1914 nachzeichnet, den geteilten Kontinent, der die europäischen Allianzen und Krisen zwischen 1887 und 1914 schildert und die Krise, wo er den Zeitraum zwischen dem Mord in Sarajevo, den Reaktionen aller Beteiligten und den letzten Friedenstagen ausführlich schildert.

Gerade in Anbetracht der aktuellen Weltlage ein wichtiges und überraschend „aktuelles“ Buch. An mancher Stelle habe ich mich gefragt, ob wir die „Fehler der Vergangenheit“ gerade wiederholen. Eine Antwort auf diese Frage habe ich bisher nicht gefunden, ich hoffe aber, daß 2015 deutlich friedlicher wird!

10. Dezember – No place to hide

Noch ein eher bedrückendes und nachdenklich machendes Buch gefällig? Dann kann ich „No place to hide“ von Glenn Greenwald (deutschsprachige Version „Die globale Überwachung„) empfehlen.

Glenn Greenwald schildert in diesem Buch die Geschichte seiner Begegnung mit Edward Snowden. Alles beginnt mit einer Email von einem „Cincinnatus“, der ihn dringend auffordert Pretty Good Privacy (PGP) zu nutzen, damit er mit ihm in Kontakt treten kann. Glenn Greenwald ist zwar nicht abgeneigt, doch irgendwie kommt er trotzdem nicht dazu, PGP zu installieren und der Kontakt schläft zunächst – trotz Andeutungen auf eine vielversprechende Geschichte – ein. Edward Snowden (der hinter dem Pseudonym „Cincinnatus“ steckt) ist frustiert und wendet sich an Laura Poitras und die wiederum schafft es Glenn Greenwald ins Boot zu holen.

Eindrücklich schildert Glenn Greenwald die von ihm und allen Beteiligten ergriffenen Sicherheitsmaßnahmen, die Angst und Beklemmung – gerade auch beim Treffen in Hongkong, aber auch die Hoffnung und das Vertrauen, das das Offenlegen dieser brisanten Informationen etwas ändern wird. Wirklich spannend ist auch, wie schwierig die Veröffentlichung der Berichte war – gerade auch für den Guardian …..

Mir wurde beim Lesen deutlich bewußt, daß es tatsächlich keinen Ort mehr gibt, an dem man sich wirklich verstecken kann und das ist für mich eine wirklich beklemmende Vorstellung.
Trotzdem (oder gerade deshalb) ein sehr gutes Buch – ich bin froh, daß ich es gelesen habe!

9. Dezember – A More Beautiful Question

Zugegeben – ich lese das Buch „A More Beautiful Question“ von Warren Berger (deutschsprachige Version: „Die Kunst des klugen Fragens„) noch. Aber es ist schon jetzt eines meiner Lieblingsbücher dieses Jahres.

Warum? Genau deshalb – weil es die Frage nach dem „warum“, dem „was wäre wenn“ und dem „wie“ beleuchtet und in den Vordergrund stellt. Jeder Entdeckung – in welchem Bereich auch immer – liegt eine gute Frage zugrunde und diese Frage zu entwickeln und zu stellen und sie auch immer wieder zu hinterfragen, das ist das Anliegen dieses Buches. Um die Kraft guter Fragen zu zeigen und was sie tatsächlich bewirken können, versorgt uns der Autor mit Beispielen von Menschen, die sich für sie selbstwichtige Fragen gestellt haben und die erstaunliche Dinge entwickelt haben. Aber Fragen führen uns nicht nur zu außergewöhnlichen Entdeckungen sondern helfen uns auch im Alltag – wenn wir eigene Fragen entwickeln!

Was wäre also, wenn wir mehr Fragen stellen und uns und unsere Umgebung auch stärker hinterfragen, ja regelrecht „infragestellen“? Eine für mich schöne und spannende Frage, an die sich hoffentlich viele weitere schöne Fragen anschließen!

8. Dezember – FORS Der Preis des Buches und sein Wert

Es ist ein Buch für Buchliebhaber – das glänzend geschriebene Buch von Roland Reuß „FORS Der Preis des Buches und sein Wert„, das ich vor einigen Monaten bei einem kleinen Bücherbummel durch die Buchhandlung Proust in Essen entdeckte. John Ruskin – der Autor des Werkes „Fors Clavigera“ war mir zu diesem Zeitpunkt (noch) unbekannt und so standen mir spannende Entdeckungen bevor. Roland Reuß reist – ausgehend von heute – durch die Buch- und Kunstwelt der letzten 150 Jahre und durch das Leben und Werk von John Ruskin.

96 Briefe hat John Ruskin an die „Workmen and Labourers of Great Britain“ gerichtet und zu einem festen Preis verkauft. Keine Werbung, kein Anbiedern an potentielle Leser, keine Freiexemplare für Zeitungen und Journalisten, keine Kompromisse beim Preis – der innere Wert des Buches zählt! Einfach ist das nicht, doch Ruskin setzt sich und seine Vorgehensweise durch.

Die Verzahnung der Ruskinschen Briefe mit der Geschichte seines Lebens, seinen Reisen und immer wieder überraschenden Anknüpfungen, die Thematisierung von Preis und Wert – gerade auch im Hinblick auf „Arbeit“ hat mich begeistert und gleichzeitig sehr nachdenklich gemacht.

7. Dezember – Die Odyssee des Fälschers

Wer hat eigentlich die Antike erfunden? Aber: ist „erfunden“ in dem Zusammenhang der richtige Begriff? Anscheinend, denn Rüdiger Schaper schildert in seinem Buch „Die Odyssee des Fälschers“ die spannende und gleichzeitig haarsträubende Geschichte des Fälschers Konstantin Simonides.

Die (echte) Lebensgeschichte von Konstantin Simonides läßt sich nur teilweise herausfinden. Sicher ist wohl, daß er sich frühzeitig mit alten Schriften beschäftigt und auf diesem Gebiet zum Meister wird – auch zum Meister der Nachahmung beziehungsweise Fälschung. Sein Lebenweg im Europa des 19. Jahrshunderts führt durch alle wichtigen Städte und überall hinterläßt er Spuren, die Rüdiger Schaper in einer wirklich spannenden Geschichte zusammenträgt. Gleichzeitig erzählt Schaper dabei auch, wie unser heutiges Bild von der Antike entstand. Der Gedanke, daß Konstantin Simonides mit seinen Fälschungen damit die Antike „erfand“ hat etwas Faszinierendes – vor allem, wenn man das Buch gelesen hat und über die Unterscheidung von Original und Fälschung nachdenkt ……

6. Dezember – Wider den Gehorsam

Es gibt keinen anderen Tag im Jahr, den ich so stark mit „Gehorsam“ verbinde, wie den Nikolaustag. Die Frage „seid Ihr auch brav gewesen“ ist für mich fast untrennbar mit diesem Tag verbunden. Aber: ist es wirklich gut, gehorsam und brav zu sein? Nein, schreibt Arno Gruen in seinem Buch „Wider den Gehorsam„.

Gehorsam und die Auswirkungen des Gehorsams sind ein sperriges Thema. Wir Menschen halten uns für autonom, eigenständig und authentisch. Aber sind wir das wirklich? Oder wurden wir seit unserer Kindheit „verändert“ und von unserer eigenen Identität entfremdet? Lehnen wir (unbewußt) in anderen Menschen das ab, was uns „verboten“ und damit „entfremdet“ wurde?

Das Thema ist nicht leicht und beim Lesen des Buches habe ich mehr als einmal schwer geschluckt. Gerade das Milgram-Experiment zeigt ziemlich eindrucksvoll, welche Folgen Gehorsam haben kann. Das Problem ist schlicht und einfach, daß das Vertrauen in die Autorität („die wollen ja nur unser Bestes“) gleichzeitig dazu führt, daß wir uns selbst – weil wir ja gehorsam sind – nicht mehr verantwortlich fühlen. Kein wirklich „schöner“ Gedanke …..

Glücklicherweise bietet das Buch auch einen „versöhnlichen“ Ausblick – wenn wir auch auf unsere Gefühle und nicht nur auf unseren Verstand hören, wenn wir uns Mitgefühl erlauben, dann können wir uns andere Perspektiven erleben und uns vom (kritiklosen) Gehorsam entfernen. Und das wäre doch ein schönes Nikolausgeschenk, oder?

5. Dezember – The Art of Procrastination

Städtereisen nutze ich gerne zum ausgiebigen Buchhandlungsbummel. Bei meiner letzten Berlinreise habe ich das kleine Büchlein „The Art of Procrastination“ von John Perry entdeckt (in deutscher Sprache: „Einfach liegen lassen„) – ein kleines sprachliches und gedankliches Juwel (wobei ich den englischsprachigen Titel viel schöner finde als den deutschsprachigen Titel!).

Manchmal ist die Frage der Balance zwischen Arbeit und Ruhe schwierig. Nicht immer ist es ein (reines) Zeitproblem, gelegentlich brauche ich einfach ein bißchen Ruhe oder Zeit zum Nachdenken, damit ich mögliche Probleme wirlich „sehe“. Gerade wenn ich dann etwas (völlig) anderes tue, komme ich oft auf gute Ideen. Einerseits ist das irgendwie Aufschieben, andererseits ist es für mich ein Weg zu „guten“ Ergebnissen.
In vielen Aufsätzen, Büchern und Texten wird das Thema „Aufschieben“ vor allem als Schwäche beziehungsweise Defizit angesehen. Autoren schlagen To-Do-Listen, Prioritätssetzung und Zeitmanagement als „Lösungen“ vor. Was aber, wenn es sich gar nicht um eine Schwäche, sondern um eine Stärke handelt? Was, wenn Menschen einfach nur unterschiedlich mit ihren Aufgaben und ihrer Planung umgehen? Perry führt den Begriff der strukturierten Prokrastination ein – wenn man an anderen Aufgaben arbeitet als man „eigentlich“ sollte ……, damit aber wiederum viel „erledigt“ bekommt (wenn auch nicht in der Reihenfolge der To-Do-Liste). Eine interessante Perspektive – die für die Zusammenarbeit mit anderen Menschen natürlich oft schwierig ist ……..

Jedenfalls ein schönes Buch, das mich auf einfühlsame und humorvolle Weise angeregt hat, meinen Umgang mit Prioritäten und To-Do-Listen zu hinterfragen!